
Quelle : ITGL
Intergeschlechtlichkeit – Variationen der Geschlechtsentwicklung
Basierend auf einem Workshop wurden von einer Klasse des Lycée Technique des Professions Educatives et Sociales (LTPES) Inhalte zum Thema Intergeschlechtlichkeit zusammengetragen. Das Ziel war es, eine Internetseite zusammenzustellen, wo junge Menschen sich offen über das Thema Intergeschlechtlichkeit informieren können. Der Workshop erfolgte in Kooperation mit den Vereinigungen Intergeschlechtliche Menschen, Intersex & Transgender Luxembourg und der ANIJ.
Was ist Intergeschlechtlichkeit?
Bei der Intergeschlechtlichkeit handelt es sich um Variationen der Geschlechtsmerkmale, beziehungsweise der Geschlechtsentwicklung. Intergeschlechtliche Menschen können sich als weiblich oder männlich, als inter, divers oder etwas „Eigenes“ definieren (Dritte Geschlechtsoption, siehe unten). Daher können intergeschlechtliche Menschen sehr unterschiedliche Begriffe für sich verwenden. Außenstehende sollten nach der Selbstbezeichnung der Menschen fragen oder in der generellen Form von inter Menschen sprechen.
Hier sind einige Beispiele für die Vielfalt von Geschlechtsmerkmalen:
- Eine Person kann Hoden und Eierstöcke haben, oder „gemischtes“ Keimdrüsengewebe haben.
- Eine Person kann Genitalien haben, die weder eindeutig männlich, noch eindeutig weiblich zugeordnet werden können (sehr kleiner Penis, sehr große Klitoris).
- Eine Person mit Chromosomensatz 46, XY (der typische Chromosomensatz eines Mannes) kann weiblich aussehende Genitalien haben.
- Ein Mensch kann einen Chromosomensatz haben, der weder männlich, noch weiblich zugeordnet werden kann: 45, X0 – nach medizinischer Definition.
- Eine Person, die als Mädchen aufgewachsen ist und sich als weiblich empfindet, entwickelt in der Pubertät aufgrund von innenliegenden Hoden als männlich zugeschriebene sekundäre Geschlechtsmerkmale, zum Beispiel Bartwuchs und Stimmbruch.
- Eine Person, die als Junge aufgewachsen ist und sich als männlich empfindet, entwickelt in der Pubertät aufgrund von vorhandenen Eierstöcken als weiblich zugeschriebene sekundäre Geschlechtsmerkmale, zum Beispiel Brustwachstum.
Aufbau von Geschlecht
- Körperliches Geschlecht: primäre Geschlechtsmerkmale (Keimdrüsen und Genitalien) und sekundäre Geschlechtsmerkmale (Brust, Haarwuchs…) wie auch Chromosomen und Hormone.
- Empfundenes Geschlecht (Geschlechtsidentität/geschlechtliche Selbstwahrnehmung)
- Geschlechtsausdruck: Wie eine Person sich äußerlich darstellt.
- Soziales Geschlecht: Geschlechtseintrag in den Personenstandspapieren, Erziehungsgeschlecht (soziale Rolle, in die ein Mensch sozialisiert wird, oftmals auch als Gender bezeichnet).
Wie fühlt sich eine inter Person?
Es ist schwierig für Außenstehende, sich in die Lage zu versetzen – besonders, wenn man niemanden kennt, der inter ist. Da unsere Gesellschaft streng geschlechtsbinär (reduziert auf die zwei Geschlechter männlich und weiblich) aufgebaut ist, können sich inter Menschen nicht erkannt und nicht akzeptiert fühlen. Wenn im Unterricht ausschließlich von Mädchen und Jungen als Norm gesprochen wird, fühlen sich inter Menschen unsichtbar und nicht existent.
Dazu kommt das Problem, dass in unserer Gesellschaft Intergeschlechtlichkeit noch immer ein Tabu ist. Dadurch werden die inter Menschen aufgefordert, ihre Einzigartigkeit für sich zu behalten. Das kann im Extremfall sogar dazu führen, dass sie sich für ihren Körper schämen, ausgegrenzt und einsam fühlen und gesellschaftliche Kontakte meiden. Daher kann es für sie sehr schwierig sein, mit anderen über ihre Besonderheit oder auch über Intergeschlechtlichkeit im Allgemeinen zu sprechen.
Demgegenüber gibt es inter Menschen, die von Beginn an über ihre Intergeschlechtlichkeit informiert und in ihrem sozialen Umfeld anerkannt waren und deshalb kein Problem damit haben, über sich zu sprechen beziehungsweise aus ihrem Leben zu berichten.
Folgen von Operationen
Bisher wurden inter Kinder häufig bereits im Säuglingsalter an den äußeren, teilweise auch den inneren Geschlechtsorganen operiert, um sie geschlechtlich Mädchen oder Jungen anzugleichen. Teilweise wurden auch Keimdrüsen (zum Beispiel innen liegende Hoden bei weiblich zugewiesenen Kindern) entfernt. Als Grund für diese Operationen wurde oftmals angegeben, dass dies notwendig sei, um eine stabile psychische Entwicklung des Kindes zu gewährleisten und das Kind vor Ausgrenzung und Mobbing in der Schule zu schützen. Dieses Vorgehen nahm das Risiko von Einschränkung oder Verlust der sexuellen Empfindungsfähigkeit in Kauf. Diese Operationen wurden zumeist in einem Alter eines Kindes durchgeführt, in dem es keine informierte Einwilligung geben kann. Daher liegt eine Menschenrechtsverletzung vor, wenn nicht ein lebensbedrohlicher Zustand abgewendet wird oder die Funktionsfähigkeit der Keimdrüsen erhalten bleiben soll. In Deutschland sind Operationen an Kindern mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung seit Juni 2021 verboten, wenn sie lediglich dazu dienen, an das männliche oder das weibliche Geschlecht anzupassen und keine medizinische Indikation vorliegt. In Luxemburg finden derartige Operationen weiterhin statt.
Kinderwunsch
Intergeschlechtliche Menschen können ihrem Kinderwunsch auf vielfältige Art und Weise nachkommen. Nicht alle von ihnen können diesen mit ihren eigenen körperlichen Bedingungen verwirklichen. Inwiefern diese vorhanden sind oder unterstützt werden müssen, kann nur in speziellen medizinischen Einrichtungen abgeklärt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Prüfung der Fortpflanzungsfähigkeit vor einer geplanten Entnahme von Keimdrüsen (Eierstöcke, Hoden).
Unterschied zwischen Intergeschlechtlichkeit und Transidentität
Bei Intergeschlechtlichkeit liegen Variationen der primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmale (Ausführungen siehe oben) vor. Bei Transidentität kann ein Mensch gemäß medizinischer Normen dem weiblichen ODER männlichen Geschlecht zugeordnet, ohne eine Variation seiner Geschlechtsmerkmale aufzuweisen, aber er identifiziert sich nicht mit dem zugeordneten Geschlecht, sondern mit dem anderen binären oder einem abinären Geschlecht.
Dritte Geschlechtsoption
In Deutschland haben inter Menschen die Möglichkeit, entweder den Geschlechtseintrag streichen zu lassen oder als Alternative zu weiblich oder männlich den Eintrag „divers“ vornehmen zu lassen. In Luxemburg besteht diese Möglichkeit derzeit nicht. Die Regierung hat die Prüfung dieser Möglichkeit einer dritten Geschlechtsoption in Aussicht gestellt.
Offenheit statt Tabu
Einige junge Menschen haben bereits beobachtet, dass sich ihr Körper von Mädchen und Jungen unterscheidet, konnten jedoch mit ihren Eltern nicht darüber sprechen und verstehen daher oft nicht die Zusammenhänge. Es kann sein, dass in der Familie die körperlichen Besonderheiten tabu sind und nicht angesprochen werden können. Oft glauben die Jugendlichen dann, sie wären völlig allein mit dieser körperlichen Besonderheit und dass sie das Problem wären.
Besonders für diese Jugendliche ist es wichtig, dass es Anlaufstellen und Internetseiten gibt, wo sie sich informieren können.